Prolog: Café Schwarzenberg
Vor einigen Jahren traf ich in Wien meinen Kollegen Lorenz[1] im legendären Café Schwarzenberg. Er erzählte mir, dass er, obwohl er seit vielen Jahren als Opernsänger und Gesangspädagoge tätig war, gerade seine Ausbildung als Psychotherapeut abgeschlossen hatte. Beim Gespräch über eine ehemalige Studienkollegin, erlaubte ich mir, ihn zu fragen, wie er sie denn aus psychotherapeutischer Sicht beurteilen würde. Seine Antwort kam wie aus der Pistole geschossen: „Na, aber das ist doch klar! Sie ist eine Histrionikerin!“ Zum damaligen Zeitpunkt wusste ich nicht, was dies bedeutet. „Histrionisch“ klang ähnlich wie „hysterisch“ und damit nicht gut.
Bereits auf dem Weg nach Hause suchte ich im Internet Einträge zum Thema „histrionisch“. Der häufigste Bezug wurde dort zum ICD-10, einem Diagnostikmanual zur Klassifikation psychischer Störungen, hergestellt, welches das Störungsbild einer „histrionischen Persönlichkeit[2] beschrieb. Meinte Lorenz tatsächlich, dass die Kollegin persönlichkeitsgestört war? Schließlich fand ich die ursprüngliche Bedeutung des Wortes[3]: „histrion“ war das lateinische Wort für „Schauspieler“ und meinte im alten Rom „mimische Tänzer, die […] bei Leichenspielen und kultischen Festen“ auftraten. Ich vermutete, dass Lorenz sein Urteil auf diese Wortbedeutung bezogen hatte. Da ich Lorenz nach diesem Treffen für längere Zeit nicht traf, war es mir zunächst nicht möglich, dies zu klären.
Kriterien einer histrionischen Persönlichkeitsstörung
Im DSM IV und im DSM V[4] wird die histrionische Persönlichkeitsstörung dem Cluster B zugeordnet. Dieser fasst Persönlichkeitsstörungen mit „emotionalem, launischem oder dramatischen“ Verhalten zusammen[5]. Befasst man sich darüber hinaus mit den Kriterien einer histrionische Persönlichkeitsstörung[6] (F60.4) im ICD-10, kann man bei Künstler:innen[7] tatsächlich viele Eigenschaften finden, die auf diese zutreffen würden. Bei allen sechs im ICD-10 aufgeführten Kriterien finden sich Parallelen zur Welt der Musik und der Kunst:
Kriterium 1: Dramatisierung bezüglich der eigenen Person, theatralisches Verhalten, übertriebener Ausdruck von Gefühlen:
„Große Gefühle“ sind vermutlich den meisten darstellenden Künstler:innen vertraut, weil es Teil ihrer Profession ist, sich mit Emotionen zu befassen und diese in ihre Interpretation einfließen zu lassen. Durch die permanente Beschäftigung mit Emotionen agieren Musiker:innen und Schauspieler:innen womöglich auch im Alltag unmittelbarer. Vielleicht wirken deshalb manche Künstler:innen auch lauter, freier, expressiver oder „theatralischer“ als ihre Mitmenschen.
Kriterium 2. Suggestibilität, leichte Beeinflussbarkeit durch andere Personen oder Umstände
Musiker:innen bzw. Schauspieler:innen arbeiten häufig in multiprofessionellen Teams. Nur in der Ausübung des von ihnen erlernten „Handwerks“[8] sind sie wirklich frei. Ansonsten müssen sie sich in ihrem Berufsalltag ein- und unterordnen. Dabei haben sie sich den Anweisungen und Vorgaben von Intendanten, Regisseur:innen, Dirigent:innen, Kostümbildner:innen, Agent:innen, Chorleiter:innen, Inspizient:innen etc. zu fügen. Wenn Künstler:innen sich nicht flexibel auf ihr Umfeld einstellen können, haben sie es schwer, in ihrem Beruf zu bestehen.
Kriterium 3: Oberflächliche und labile Affektivität
Möglicherweise erleben Künstler:innen tatsächlich häufiger als ihre Mitmenschen Gefühlsschwankungen. Während Psychotherapeut:innen beispielsweise lernen, sich in bestimmten Situationen von Gefühlen zu distanzieren (z.B. bei Übertragungsgeschehen), ist es das Ziel einer künstlerischen Ausbildung, Studierenden beizubringen, in die Emotionen der zu interpretierenden Werke „hineinzugehen“ und ihnen „nachzuspüren“. Wenn Musiker:innen und / oder Schauspieler:innen nicht befähigt werden, sich auch vor Emotionen „schützen“ zu können, kann daraus möglicherweise eine gewisse Labilität resultieren.
Kriterium 4: Andauerndes Verlangen nach Aufregung, Anerkennung durch Andere und Aktivitäten, bei denen die betreffende Person im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht
Es wäre erstaunlich, wenn Künstler:innen bei der Ausübung ihrer Profession nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen wollten. Ohne Publikum können Musiker:innen und Schauspieler:innen nicht leben. Das Publikum bildet die Basis ihrer Existenz. In ihrer Ausbildung erwerben sie die Kompetenz, vor vielen Menschen aufzutreten und mit dem Druck der Öffentlichkeit (so gut wie möglich) umzugehen.
Kriterium 5: Unangemessen verführerisch in Erscheinung und Verhalten
Um erfolgreich zu sein, müssen Schauspieler:innen und Musiker:innen ihr Publikum überzeugen. Nicht nur eine attraktive Erscheinung, sondern auch ein attraktives Verhalten spielen eine Rolle, um beim Publikum Resonanz zu wecken. Jeder Künstler / jede Künstlerin bestimmt sein / ihr persönliches Image. Wo dabei die Grenze zur „Unangemessenheit“ liegt, wird individuell und kontextorientiert bewertet.
Kriterium 6: Übermäßiges Interesse an körperlicher Attraktivität
Schönheit liegt im Auge des Betrachters. Da Schauspieler:innen und Musiker:innen auf der Bühne stehen, liegt es in der Natur der Sache, dass sie sich mit körperlicher Attraktivität befassen und dabei nicht nur sich, sondern auch andere vor einem solchen Hintergrund beurteilen. Körperliche Attraktivität ist in der Welt der Kunst ein Teil des Erfolges.
Emotionen in der Kunst
Die Beschäftigung mit Emotionen stellt seit jeher ein zentrales Thema der künstlerischen Ausbildung dar. Für Musiker:innen und Künstler:innen sind Emotionen ein „Werkzeug“: je authentischer die Gefühle, desto berührter ist das Publikum. Musikalische „Sternstunden“ entstehen durch hervorragende künstlerische Interpretationen und die Vermittlung der Bilderwelt von Kompositionen und Texten. Je näher Künstler:innen an der emotionalen Intention der Komposition oder des Textes sind, desto größer ist ihr künstlerischer Erfolg. Musiker:innen und/oder Schauspieler:innen müssen damit nicht nur das technische „Handwerk“ ihrer Kunst erlernen, sondern auch erfahren, wie sie emotionsgeleitet interpretieren können. Großartige Interpretationen von Schauspielerinnen und Schauspielern oder Musikerinnen und Musikern erfordern also das Einsteigen in künstlerische Tiefen, das Nacherleben oder Vorwegnehmen von großen Emotionen.
Histrionischer Stil
Um eine histrionische Persönlichkeitsstörung nach dem ICD-10 diagnostizieren zu können, müssen mindestens vier der oben genannten sechs Kriterien zutreffen. Darüber hinaus ist es erforderlich, dass zusätzlich auch die allgemeinen Kriterien einer Persönlichkeitsstörung erfüllt sind. Letztere beziehen sich auf die „Erfahrungs- und Verhaltensmuster“ der Betroffenen, die im Falle einer Störung im Hinblick auf Kognitionen, Affektivität, Impulskontrolle und Art des Umgangs im zwischenmenschlichen Bereich stark von „kulturell adäquaten Vorgaben (Normen) abweichen“ würden[9].
Personen, die an einer „krankheitswertigen“ histrionischen Persönlichkeitsstörung[10] leiden, stehen unter einem hohen Leidendruck und sind in der Regel nicht fähig, die aus ihrem Verhalten resultierenden Probleme selbst zu lösen. Eine histrionische Persönlichkeitsstörung ist überdies in der Regel „ich-synton“[11], was bedeutet, dass die Betroffenen nur eine geringe Änderungsmotivation besitzen. Sie sind nicht der Ansicht, ihre Probleme selbst verursacht zu haben. Man spricht demzufolge dann von einer histrionischen Persönlichkeitsstörung, wenn die Betroffenen sich deutlich außerhalb der gültigen Normen der Gesellschaft bewegen, die Konsequenzen ihres Verhaltens in ihnen selbst einen nicht unerheblichen Leidensdruck hervorrufen und sie nicht fähig sind, die Probleme zu lösen, die aus ihrem Verhalten entstehen.
Obwohl das Verhalten von Musiker:innen oder Schauspieler:innen in manchen Fällen entfernt an die Kriterien der histrionischen Persönlichkeitsstörung (s.o.) erinnern könnte, bedeutet das in keinster Weise, dass ihr Verhalten pathologisch ist. Es besitzt keinen Krankheitswert, sondern spiegelt lediglich ihr von ihrer Profession beeinflusstes Alltagsverhalten. Sie zeigen einen histrionischen Stil[12].
Wahrscheinlich besteht die Gefahr, aufgrund von Kategorien ganze Störungsbilder zu „verschreiben“. Dies spiegelt sich auch in der Forschung wider, die über einen langen Zeitraum „nicht-pathologischen Entsprechungen des histrionischen Stils“[13] kaum Beachtung schenkte. Wie am Vergleich mit Musiker:innen und Schauspieler:innen zu sehen ist, macht es deshalb durchaus Sinn, wenn das seit 2022 gültige ICD-11 die kategoriale Diagnostik zugunsten einer dimensionalen Betrachtungsweise der Persönlichkeitsstörungen aufgibt. Dadurch wird der Blickwinkel daraufhin geschärft, wie schwer die Patientinnen und Patienten beeinträchtigt sind und welchen Persönlichkeitsmerkmalen[14] diese Beeinträchtigungen zuzuordnen sind. Eine solche Zugangsweise macht mehr Sinn als die Überbetonung von Kategorien.
Epilog: Verzauberung
Meine spätere eigene Beschäftigung mit Psychotherapie machte mir deutlich, in welchem Kontext mein Kollege Lorenz damals das Wort „histrionisch“ verwendet hatte. Wahrscheinlich implizierte er damit nur, dass die Kollegin eben einen histrionischen Stil hatte. Von Pathologie war von seiner Seite aus nicht die Rede. Trotzdem erlebte ich in dieser Situation, wie leicht es ist, Menschen zu etikettieren (gesund, krank, gestört, auffällig, histrionisch etc.) und wie groß die Versuchung ist, dies zu tun. Dies ist nachvollziehbar, darf aber nicht dazu führen, dass Einzelpersonen oder sogar ganze Berufsgruppen pauschal verurteilt werden.
Künstler:innen zeigen nicht mehr oder weniger als andere Menschen die Neigung, an psychischen Störungen zu erkranken. Durch die Dichte der bei der Ausübung ihrer Profession entstehenden Emotionen ist es jedoch wichtig, dass sie sorgsam mit diesen umgehen lernen und fähig sind, sich gegebenenfalls auch davon zu distanzieren. Wenn dies gelingt, können im künstlerischen Tun vorbehaltlos „magische“ Momente entstehen, die Menschen „in eine andere Welt“ versetzen und zutiefst bewegen.
[1] Name geändert.
[2] ICD-10: Internationale Klassifikation psychischer Störungen, ICD-10 Kapitel V (F), Bern, 1. Nachdruck 2018 der 10.Auflage, 2015, S. 218.
[3] Duden-Lexikon, hrsgb. v. Fachredaktionen d. Bibliographischen Instituts in Gemeinschaft mit der Duden-Redaktion, 2. Bd., Mannheim 1962, S.958
[4] Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders.
[5] Paulitsch, Klaus, Grundlagen der ICD-10 Diagnostik, Wien, 2009, S. 218.
[6] ICD-10: Internationale Klassifikation psychischer Störungen, ICD-10 Kapitel V (F), Bern, 1. Nachdruck 2018 der 10.Auflage, 2015, S. 280.
[7] Der Begriff Künstler:innen bezieht sich in diesem Artikel insbesondere auf Musiker:innen und Schauspieler:innen.
[8] Sänger:innen: Gesangstechnik, Musiker:innen: Technik des Instrumentes, Schauspieler:innen: Sprechtechnik.
[9] Paulitsch, K. ibid., S. 218.
[10] Patenge, Martina, Histrionische Persönlichkeiten, in: Speyerer Hefte für Spiritualität, XXI/2015, Speyer, 2015, S. 7
[11] Sachse, Rainer, Persönlichkeitsstörungen, Göttingen, 2019, S.170.
[12] Patenge, ibid. S.7.
[13] Friedel, Heiko, Entwicklung einer Klassifikation histrionischer Selbstdarstellungstypen (Diss.), Bamberg, 2005, S.14
[14] negative Affektivität, Distanzierheit, Dissozialität, Enthemmung, Anankasmus
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